Über 300 Sonnentage im Jahr, aromatischer Gewürztraminer, frisch gepresster Apfelsaft, würzige Brett‘l-Jaus’n, staubige Wegal in der wärmenden Frühjahrssonne – Das klingt nach Urlaub und wer kennt sie aktuell nicht diese sehnsüchtigen Gedanken, die einem zurzeit immer wieder den Kopf während des Home Offices durchqueren. Manch einer kann sofort die Verbindung der genannten Urlaubsschmankerl und dem im Titel erwähnten Bike für diesen Einzeltest ziehen: Ja richtig, der Propain-Trail im schönen Südtiroler Vinschgau, wohin wir sicherlich gerne das 2020er Propain Tyee für einen ausführlichen und dem Einsatzgebiet passenden Test entführt hätten. Wir haben dennoch das Beste daraus gemacht und das Tyee in seiner neuesten Ausführung mit 29“-Rädern sieben Wochen lang über unsere Hometrails im Alpenvorland gejagt und dabei für euch auf Herz und Nieren getestet.
Inhaltsverzeichnis
Geometrie und Rahmen
Propain hat 2020 dem Tyee CF ein ordentliches Update mit der Überarbeitung der Geometrie und des Hinterbaus, sowie den großen 29“-Laufrädern verpasst. Die Allgäuer Bikeschmiede bleibt dabei dem nun seit Jahren etablierten Erscheinungsbild treu, sodass der Wiedererkennungswert trotz Überarbeitung der Geometrie und Dämpfereinbaulage überraschend gut gegeben ist. Bei Letzteren befinden sich Dämpfer und dessen Anlenkung nicht mehr zwischen Hinterrad und Sattelrohr, sondern im Rahmen-Dreieck selbst und ist damit dem Dreckbeschuss des Hinterrads nicht mehr wie in den Jahren zuvor ausgeliefert. Der Hinterbau des Propain Tyee CF besteht wie der Hauptrahmen aus Carbon.
Ebenso wie die Laufradgröße sind auch Reach und Stack entsprechend dem Trend gewachsen. Ausgewiesen in Größe L mit 471 mm Reach und 639 mm Stack, hat die Geometrie des neuen Tyee an Länge aber vor allem auch an Höhe gewonnen. Das dürfte dem abfahrtsorientierten Bike in der steilen Abfahrt sicherlich gefallen. Der relativ flache Lenkwinkel von 64,5° und der Radstand von 1253 mm betonen dieses Einsatzgebiet zusätzlich. Der dagegen steile effektive Sitzwinkel von 77,1° verspricht ein breites Einsatzspektrum. Interessant sowohl bergab als auch bergauf sind sicherlich auch die 445 mm langen Kettenstreben, die aufgrund ihrer Länge dem Steigen des Vorderrads in steilen Tretpassagen entgegenwirken, jedoch vermutlich bergab dem Tyee auch ein wenig an Wendigkeit nehmen. Das Unterrohr sollte im unteren Bereich durch seinen Plastikschutz gut gegen Steinschläge gewappnet sein ebenso wie die Kettenstrebe gegen Schläge der Kette im rumpeligen Gelände.
Ausstattung des Testbikes
Die Aluvarianten des Propain Tyee gehen aktuell ab 2.649 € über den Online-Ladentisch, für die circa 1 kg leichtere Carbonversion geht es bei 3.249 € los. Das Tyee kann man dabei individuell mit seinen Wunschkomponenten ausstatten lassen. Auch unser Testbike kommt aus dieser nahezu grenzenlosen Konfigurationsschmiede und bietet einen soliden, aber hochwertigen Komponentenmix verschiedener Hersteller und bringt knapp 14 kg auf die Waage. Der im Warenkorb angezeigte Preis dieser Konfiguration zeigt 4.863 € (Stand 03/21) an. Farben, wie die unserem Fall gezeigte Farbe „Marsred Dark“, sind dabei ebenso Geschmackssache wie die Vorliebe für bestimmte Komponenten, sodass wir hier auch lediglich auf das Zusammenspiel der Komponenten mit dem Rahmen unseres Testbikes eingehen werden.
Fahrwerk
Beim Fahrwerk hat uns Propain für das Testbike ordentlich nach dem Motto „gönn‘ dir“ aus der edlen Kiste mit dem orangenen Fuchs versorgt und uns eine Fox 36 Factory an der Front verbaut. Die Gabel kommt mit 170 mm Federweg an ihren Kashima-Standrohren, mit Grip2 Dämpfungseinheit und mit dem beim 2020-Modell kürzeren Offset von 42 mm, was sich durchaus positiv auf die längere Rahmengeometrie auswirken dürfte.
Der viergelenkige „Pro 10“-Hinterbau am Propain Tyee wurde bereits in den vergangenen Modelljahren kontinuierlich weiterentwickelt und soll nun im aktuellen Modelljahr ein Optimum zwischen ausreichender Progression für Stahlfederdämpfer und linearem Ansprechverhalten für Luftdämpfer bieten. In unserem Test-Tyee werden die 160 mm Federweg von einem Fox Float X2 Factory bereitgestellt, welcher uns die bekannten Einstellungsmöglichkeiten für High und Low Speed Compression sowie High und Low Speed Rebound bietet. Wie bereits bei den älteren Tyee-Modellen, befindet sich die Einstellung der Druckstufe sehr weit unten aufgrund der Dämpferanlenkung und dessen senkrechte Position. Man benötigt zwar einen langen Arm, wenn man ein Wippen während der Fahrt unterdrücken möchte, was aber beim 2020er Modell nun um Welten besser gelöst ist. Beim Vorgängermodell hatte man da auch schnell seine Finger zwischen den rotierenden Reifen und Hinterbau gezogen bekommen.
Wer mit Federelementen von Fox schon zu tun hatte, wird auch beim Tyee schnell sein optimales Setup finden. Andernfalls lohnt es sich definitiv die einzelnen Einstellungsmöglichkeiten systematisch durch mehrmaliges Abfahren einer repräsentativen Strecke zu optimieren.
Beim Tyee waren wir am Ende mit relativ viel SAG von 30 % am Hinterbau und etwas weniger mit 25 % an der Front am zufriedensten auf unseren Hometrails.
Antrieb und Bremsen
An dem Propain Tyee Testbike wurde durchgehend die hochwertige SRAM X01 Eagle Schaltgruppe verbaut. Die Kassette hat dabei die noch für 2020 verbauten 50 Zähne am größten Ritzel. Propain verbaut aber für 2021 auch hier inzwischen die neuere Kassette mit 10-52 Zähnen. Als Kurbel ist eine Truvativ Descendant Carbon mit einem 32er Kettenblatt verbaut. Im Zusammenspiel mit dem 50er oder sogar 52er Ritzel hält diese Kombi stets das optimale Übersetzungsverhältnis für ein großes Einsatzspektrum bereit – auch etwas steiler bergauf.
Für die richtige Sitzposition beim nötigen Vortrieb hat man im Propain-Onlineshop eine sehr breite Auswahl verschiedenster Sattelstützen. Die bei uns verbaute BikeYoke Revive in ihrer überarbeiteten Version verspricht mit den 160 mm Hub ausreichend Beinfreiheit sowie mit ihrer bewährten mechanischen Ansteuerung eine unauffällige und zuverlässige Funktionsweise.
Gebremst wird an unserem Testbike mit den 4-Kolben-Bremsen MT7 aus dem Hause Magura. Ausgestattet mit 203 mm Bremsscheiben vorne und hinten verspricht uns die Bremse zumindest auf dem Papier schon einmal genug Bremspower und für die MT7 typisch ausreichend ergonomische Einstellungsmöglichkeiten wie die der Hebelweite. Will man optisch die Bremsanlage noch besser in sein individuelles Farbkonzept einbinden, so kann man jedoch selbst die neongelben Ringe der Bremssättel tauschen, da es hier im Propain-Shop keine Möglichkeit dazu gibt – schließlich gibt es genug andere Konfigurationsmöglichkeiten.
Schönes Detail: Die Leitungen von Schaltung, Sattelstütze und Bremsanlage sind alle optisch und funktional im Rahmen aufgeräumt, sogar auch im Hinterbau. Dort gehen die Leitungen direkt in die Kettenstreben und erscheinen kurz unter dem Tretlager, um dann wieder versteckt im Unterrohr zu den Auslässen am Steuerrohr zu führen.
Der verbaute Laufradsatz mit NoTubes ZTR Flow MK3 und Propain Nabe ist sicherlich kein Hingucker, erfüllt jedoch bei einem halbwegs sauberen Fahrstil seinen Zweck, um vielseitig im Bikepark als auch bei Touren eingesetzt werden zu können.
Cockpit
Der an unserem Testbike verbaute Sixpack Millenium Lenker hat im Vergleich zur aktuell erhältlichen Ausführung eine verkürzte Breite von 780 mm und einen Rise von 30 mm. Letzterer kann ebenso wie die Länge des Vorbaus auch nach eigenen Vorlieben konfiguriert werden. Bei den Griffen muss man aktuell mit denen von Propain Vorlieb nehmen, welche einen einfachen, aber soliden Eindruck machen. Fetischisten für aufgeräumte Cockpits würden sicherlich noch selbst Hand anlegen müssen und den Magura Bremshebeln Shiftmix Adapter verpassen, sodass die Hebel von SRAM Schaltung und BikeYoke Sattelstütze aufgeräumt sind und man kein Ensemble an verschiedensten Klemmschellen am Lenker.
Das Tyee CF in der Praxis
Propain bezeichnet sein überarbeitetes Tyee in 29“ als perfektes Enduro Bike für den vielseitigen und flexiblen Einsatz. Für uns bedeutet das, dass sich das Tyee ebenso ohne Vinschgau-Trails wohlfühlen müsste, wie wir ohne den echten Vinschgauer Apfelsaft in der wärmenden Frühjahrssonne Südtirols. Also Brett’l-Jaus’n und Apfelsaft in den Rucksack und auf das Tyee geschwungen „aue auff’n Berg“.
Beim ersten Aufsitzen nimmt man deutlich den größeren Stack und damit eine hohe Front und aufrechte Sitzposition wahr. Gleichzeitig stimmt das Verhältnis von Stack und Reach, sodass man beim Pedalieren gut vorankommt und man sich mit dem Gefühl im Bike zu sitzen sofort wohl fühlt. Spätestens im ersten Anstieg merkt man aber dann deutlich, wie die hohe Front und der flache Lenkwinkel sehr gewöhnungsbedürftig sein können. Wir haben dabei die drei Spacer unter dem Vorbau herausgenommen, um ein wenig mehr Frontlast bergauf zu bekommen, mehr Druck auf das Vorderrad auszuüben und dabei mehr Kraft in die Pedale einzuleiten. Das hilft ein wenig, jedoch merkt man dann in steilen Bergaufpassagen, wie man deutlich mit der Brust zum Vorbau wandert. Die langen Kettenstreben helfen hier dies auszugleichen und lassen selbst steile Trailabschnitte bergauf mit genug Kraft im Stand hinauftreten ohne, dass das Vorderrad merklich vom Boden abhebt, was uns sehr gut gefällt.
Gänzlich überzeugt sind wir vom Hinterbau des Tyees und dem dort arbeiteten Fox Float X2, der bereits bergauf bei Wurzeln und Steinen diese Unebenheiten nahezu aufsaugt und dem Fahrer dabei nicht unnötig Kraft abverlangt. Selbst im Wiegetritt kommt man gut den Berg hinauf, ohne seekrank zu werden. Bei längeren Auffahrten mit glattem Untergrund empfiehlt es sich die Druckstufe des Fox Float X2 auf „Firm“ zu stellen, wo wir wieder an der bereits beschriebenen Thematik der Zugänglichkeit der Dämpfereinstellungen sind. Kurz absteigen, Viertelumdrehung des blauen Rädchens und weiter geht’s, wir sind zum Glück nicht bei einem Endurorennen.
Oben angekommen lässt uns die Vorfreude und Neugierde auf die Abfahrts-Performance des Propain Tyee unser Home-Office-Paket mit Apfelsaft und Brotzeit beinahe vergessen. Gut gestärkt erwarten uns in den ersten steilen Tiefenmetern einige Felsen und Wurzeln. Spätestens hier lernt man den flachen Lenkwinkel, die hohe Front und die 170 mm Federweg vorne und 160 mm hinten an diesem Bike lieben, denn all diese Zutaten vermitteln viel Sicherheit und man kann, ohne zu zögern, auf Attacke umschalten.
Im darauffolgenden Slalom zwischen den Bäumen muss man mit etwas mehr Kraft den langen Rahmen mit dem großen Hinterrad in den Richtungswechsel zwingen und auch einen größeren Impuls zum Hochlupfen des Hinterrads in den Spitzkehren aufbringen.Wer einen höheren Wert auf Wendigkeit bei schnellen Richtungswechseln legt, sollte sich unter Umständen die 27,5-Zoll-Variante des Propain Tyee mit seinen deutlich kürzeren Kettenstreben von 430 mm ansehen, die eine deutlich höhere Agilität .
Drückt man das Tyee mit Kraft durch einen engen Anlieger oder im Grenzbereich des Magic-Mary, so merkt man auch deutlich einen spürbaren Flex der längeren Kettenstreben und des großen Hinterrads. Dies merkt man auch im ruppigen Gelände, wenn man seine gerade Linie durch das Meer von Steinen und Wurzeln zieht. Grundsätzlich stört dieses Maß an Flex nicht sonderlich, besonders für diejenigen, die nicht die direkte Hardcore Enduro-Race-Line im Blick haben, sondern es als angenehm empfinden, wenn das Hinterrad ein wenig nachgibt und damit für deutlich mehr Komfort sorgt. Ansonsten verhält sich der Hinterbau mit dem verbauten Float X2 Dämpfer auch bergab mit unserem Setup von 30 % SAG sehr feinfühlig, ohne dabei spürbar durchzuschlagen. Subjektiv nimmt man gegen Federwegs-Ende eine deutliche Progression wahr, was uns aber zusammen mit dem guten und leicht progressiven Ansprechverhalten in den ersten zwei Drittel des Federwegs sehr gut gefallen hat. Es bleibt aber jedem selbst überlassen hier sein persönliches Optimum zu finden, denn mit der Möglichkeit die Progression im Fox Dämpfer durch die Anzahl der Volumenspacer zu variieren, sollte hier jeder sein perfektes Setup für die 160 mm Federweg im Hinterbau finden.
Mit den herausgenommenen Spacern unter dem Vorbau fühlen wir uns bergab in langen Kurven mit ausreichend Druck auf dem Vorderrad sehr wohl. In den lang gezogenen Kurven und geraden Trailabschnitten weist das Tyee den Fahrer nahezu an die Bremsen ordentlich aufzumachen.
Der Blick nach hinten und den ungewohnt großen Abstand zu seinem Mitfahrer macht unmissverständlich klar, dass das Propain Tyee es liebt mit seinem flachen Lenkwinkel und seinen großen Laufrädern die direkte Linie schnell und kompromisslos nach unten zu fahren. Das Fahrwerk schluckt dabei harte und schnelle Schläge gut weg und gibt ausreichend Rückmeldung über den Untergrund. Rückmeldung über seine eigene Geschwindigkeit im ruppigen Gelände bietet leider aber auch das wahrzunehmende Kettenschlagen, das besonders bei schnellen Schlägen deutlich zu hören ist. Leider entwickelt der hierfür besonders voluminös wirkende Kettenstrebenschutz nicht seine volle Wirkung. Trotz etwas erhöhtem Kraftaufwand in den Kurven lässt sich das lange Tyee überraschend leicht an kleinen Bodenwellen in die Luft ziehen, um es dort ein wenig quer zu legen. In diesen Momenten verspüren wir einen Hauch von einem verspielten 27,5“-Bike.
Eine Sache, die uns während unseres Testzeitraumes immer wieder aufgefallen ist: Die Verlegung der Bremsleitungen und Schaltzüge ist optisch sehr schön gelöst, jedoch kommen sie unterhalb des Tretlagers dem Hinterreifen zu nahe. Bei einem schnellen Richtungswechsel, wie zum Beispiel bei der Einfahrt in einen Anlieger, oder aber auch hin und wieder bei starkem Beschleunigen im Wiegetritt nimmt man dabei deutlich hörbar den Kontakt zwischen Leitungen und Hinterreifen wahr. Hier steuert sicherlich noch der beschriebene Flex von Hinterbau und Hinterrad seinen Beitrag dazu bei. Auch wenn man sonst am Tyee nicht viel besser machen kann und dies nur bei sehr hoher Krafteinwirkung passiert, könnte Propain an dieser Stelle sicherlich durch eine Optimierung der Leitungsausgänge in den Kettenstreben für Abhilfe in den nächsten Tyee-Generationen sorgen.
Fazit
Das Propain Tyee erscheint nicht nur durch das gute Preis-Leistungs-Verhältnis und die nahezu grenzenlosen Konfigurationsmöglichkeiten im Onlineshop als attraktives Enduro-Bike, sondern bestätigt dies auch ohne nennenswerte Einschränkungen auf dem Trail bergab. Wer nicht unbedingt nach dem effizientesten und schnellsten Enduro-Bike bergauf sucht, trifft sowohl für abfahrtsorientierte Touren als auch Bikepark-Action eine ausgezeichnete Wahl. Der feinfühlige Hinterbau zusammen mit der abfahrtsoptimierten hohen Front reservieren dem Propain Tyee weiterhin die vorderen Plätze in Punkto Abfahrtsperformance: Egal was auch immer man damit bergab machen möchte, es macht nicht nur Remy Métailler sichtlich viel Spaß sondern auch wir sind von dem Bergabcharakter des Allgäuer Enduros begeistert. Klar, wir haben das Tyee hierzulande sicherlich gemäßigter bewegt als im grünen wilden Squamish oder eben im schönen sonnigen Vinschgau aber das Propain Tyee interessiert das nicht, denn es fühlt sich offensichtlich überall wohl.
Text: Martin Riedle
Bilder: Martin Riedle, Patrick Frech, Thomas Kappl
Redaktion: Robin Krings
weitere Informationen: www.propain-bikes.com