Zugegeben, das erste Studieren des Datenblattes erzeugte gemischte Gefühle über das Nicolai ION-G16. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Die erste war, dass sich der deutsche Maschinenbauer in Kooperation mit Mojo Suspension aus dem vereinigten Königreich völlig verrannt hat. Wer bitte baut denn ein Enduro Bike mit einem Reach von 502 mm – und das bei Größe M und nicht XXL? Die zweite, jedoch wahrscheinlichere Annahme war, dass das das Bike in der Tat Kalle Nicolai´s beschriebene Geolution ist und wirklich abgeht wie Luzie! Durchaus eine interessante Kontroverse, welche uns veranlasste, der Sache auf den Grund zu gehen. Wir haben uns einen G16 Rahmen in Größe M senden lassen und ihn für unsere diesjährige Testplattform genutzt. Zwei Fliegen mit einer Klappe also: Ein Bike als Teileträger für viele zu testenden Komponenten und natürlich der ION-G16 Rahmen an sich, welchen wir euch hier im Einzeltest vorstellen möchten. 3…2…1…start a Geolution!
Etwas Theorie vorweg:
Vergesst die Bedeutung der Angabe „Reach“, denn diese zählt beim G16 nicht. 502 mm sind bei einem herkömmlichen Bike für mich mit 1,78 m Körpergröße und einer Schrittlänge von 78 cm unfahrbar! Zum Vergleich: Ein ION-16 (ohne G) hat bei XL gerade mal einen Reach von 462 mm. Wie kann das Geometron Konzept nun also funktionieren, ohne dass man sich als Fahrer wie auf einer Streckbank fühlt?
Wie wird der Reach gemessen? Man zeichnet je eine senkrechte Linie durch Mitte Innenlager und Steuerrohr. Der Abstand dieser beiden Linien zu einander beschreibt den Reach (Q). Es wird dabei schnell klar, dass beispielsweise der Sitzwinkel in dieser Bemaßung keine Berücksichtigung findet. Mit ein wenig Phantasie und gedanklichem Verschieben verschiedener Winkel lässt sich erahnen, wie sich deren Varianz auf die Gesamtgeometrie des Bikes auswirkt. Stellt man den Sitzwinkel flacher bleibt der Reach gleich, das Oberrohr muss dafür jedoch länger werden. Diese doch sehr vereinfachte Aussage sollte auch dem Laien klar verständlich machen, wie komplex das Thema Geometrie ist, und das die alleinige Auswahl eines Bikes über den Reach zu Enttäuschung führen kann.
Ein Teil des Geometron Konzeptes ist zwar dieser extrem lange Reach, jedoch ebenso ein enorm flacher Lenkwinkel von DH-Bike-tauglichen 63,5 ° und ein 77 ° steiler Sitzwinkel. Diese Kombination sorgt dafür, dass sich Lenker und Sattel wieder näher kommen, die gefühlte Länge des Geometrons dadurch abnimmt und man sehr weit vorne verlagert im Bike sitzt. Dadurch soll sich außerdem der flache Lenkwinkel nicht negativ auf die Klettereigenschaften auswirken. So kann man stets genug Druck auf die Front erzeugen, was auf schnellen Trails bergab enorme Sicherheit erzeugt, und im Uphill das Vorderrad nahezu an den Boden heftet. Soviel zur Theorie….
Das Nicolai ION-G16:
Den Aufbau des Bikes haben wir euch bereits in einem ersten Artikel vorgestellt und ein paar Komponenten wie die Box Components Schaltung haben bereits „ihren“ Einzeltest erhalten. Nach die Schaltung getestet wurde, haben wir uns kurzerhand entschieden, das Schaltwerk gegen ein Shimano XT (M8000) zu tauschen. Zu gering fanden wir die Kettenspannung und Wirksamkeit der Reibungskupplung, zu laut dadurch das Schlagen und Klappern der Kette. Das Shimano Schaltwerk harmoniert hervorragend mit Box.Two Kassette und Box.One Push-Push Shifter. Der FOX Float X2 Dämpfer wird in Kürze einen expliziten Einzeltest bekommen. Mehr möchten wir euch über weitere Komponenten nicht verraten, es soll ja spannend bleiben.
Der erste Eindruck:
In Zeiten von organisch geformten Carbon- und hydroformierten Alurahmen ist die Erscheinung des Nicolai ION-G16 schon eine andere. Hydroforming sucht man vergebens, aufwändig verschliffene Schweißnähte? Fehlanzeige. Fast so als wäre die Zeit stehen geblieben kommt der Rahmen mit kerzengeraden Rohren, meist rund, teils in Vierkantausführung, passend kombiniert mit massiven Gussets und Frästeilen.
Altbacken wirkt der Rahmen jedoch keineswegs, denn überall lassen sich feine Details entdecken. Die Leitungen werden auf dem Unterrohr platziert, eine fummelige Montage durch den Rahmen findet man nicht. Wieso jedoch muss die hintere Bremsleitung unter dem Schwingen-Lager durchgefädelt werden? Nur um da durch zu kommen muss der Hydraulikkreis der Bremse geöffnet werden. Wir sind uns sicher, dass es hier sicher aufwändigere, aber geschicktere Lösungen gibt, denn der Vorteil von außen verlegter Bremsleitung ist somit dahin.
Bei den Lagern wurde im Hause Nicolai alles richtig gemacht: Diese sind alle vierfach gedichtet und sollen damit sämtlichen Schlammfahrten trotzen. Maschinenbau ist eben Maschinenbau.
Optisch wirkt das ganze Bike lang und flach. Rund 1,29 m beträgt der Radstand, was beinahe 10 cm (!) mehr als bei einem herkömmlichen ION-16 ist. Mit diesen Maßen im Kopf gehts auf den Trail…
Auf dem Trail:
Selten war ich so gespannt, ein Bike das erste Mal auszufahren – und genau so überrascht wurde ich. Nimmt man auf dem ION-G16 Platz, fühlt man sich auf Anhieb gut platziert und integriert im Rad. Keine Spur von übertriebener Länge und überstreckter Sitzposition. Der Wohlfühlfaktor ließ nicht lange auf sich warten, somit ging es auf die erste Tour….
Der erste Uphill offenbarte womit ich nicht gerechnet hätte – das Nicolai ION-G16 klettert unglaublich effektiv bergauf! Der steile Sitzwinkel erlaubt kraftsparendes Pedalieren, ohne auch nur den Hauch des Gefühls von hinten in die Pedale zu treten. Gepaart mit flachem Lenkwinkel und langem Reach bekommt man eine Menge Druck auf´s Vorderrad. Hier wird schnell klar, was man bei Nicolai mit „Gesamtschwerpunkt weiter vorn“ meint. Mit dem ION wird es zur Challenge, welch steile Rampen man noch erzwingen kann – und das sind einige! Während ich mit anderen Bikes an einer Schlüsselstelle im Pfälzer Wald oft nur mit Glück das steigende Vorderrad bändigen kann, lässt sich das G16 mit seinem langen Hinterbau bei leicht gebeugten Armen nahezu mühelos hinauf treten.
Der Fox Float X2 Dämpfer im Hinterbau verrichtet in Kombination mit dem ION einen sehr guten Dienst. Mittels X2 Switch lässt sich die Lowspeed Druckstufe des Dämpfers blockieren, was Wippen und Versinken im Federweg wirkungsvoll verhindert. Da die Highspeed Druckstufe vom Versteller unbeeinflusst bleibt, arbeitet der Dämpfer noch aktiv bei kleinen Unebenheiten oder Wurzeln. Die Traktion welche das Bike mit dem Dämpfer bergauf generiert ist wirklich enorm und stellt für mich persönlich die Benchmark dar, was mit einem Enduro möglich ist.
Erste Abfahrt mit dem Nicolai ION-G16 : Nach den ersten fünf Metern, zugegebener weise direkt in ein Steilstück, fand ich mich kopfüber im Matsch wieder. Alles klar – Gewicht nach hinten und das Steilstück über das Heck abrollen funktioniert schon mal nicht so wie man es von anderen Bikes teils gewohnt ist. Wer mit gestreckten Armen und Gewicht weit über dem Hinterrad zu Werke geht, wird genau eines nicht haben: Spaß! Warum ist das so? Verlagert man zu viel Gewicht nach hinten, wird die Front entlastet und das Vorderrad kann keinen Grip mehr aufbauen. Bei kürzeren Bikes fällt dies unter Umständen weniger auf, beim ION wird man dafür sofort bestraft. Aber alles halb so wild – wenn man sich drauf einlässt!
Das lange Oberrohr lässt viel Platz für den Fahrer. So ist es ein Leichtes, eine gute Balance zwischen Vorder- und Hinterrad zu finden. Ellenbogen raus und Angriffsposition einnehmen, dann geht so richtig was! Nachdem ich mich kurz an dieses Fahrgefühl gewöhnt hatte, kam ich in den Genuss der Vorzüge des langen Bikes. Der enorme Radstand bot ein starkes Gefühl von Sicherheit, was bei höheren Geschwindigkeiten Gold wert ist. Das G16 ist ein Gerät mit dem man es ordentlich stehen lassen kann und auch mal die direkte Linie nimmt, selbst wenn diese unsauber ist. Dabei nimmt die Gabel Impacts von vorn bereitwillig auf, ohne mit Überschlagsgefühlen abzustrafen. Aber auch in engen Passagen wirkte das Rad weitaus weniger träge als es Anblick und Datenblatt vermuten lassen – eine aktive Fahrweise vorausgesetzt. Wer Spitzkehren mit einem herkömmlichen Bike nicht fahren kann, wird sie mit dem Nicolai sicherlich nicht schneller lernen. Wer jedoch keine Probleme damit hat, wird auch mit diesem Bike klar kommen. Beim ultimativen Test im Vinschgau empfand ich es mit dem langen Nicolai ION-G16 sogar einfacher als mit einem 29“ Enduro. Wenn man die Kurven möglichst weit außen anfährt, zirkelt das Hinterrad über die Innenseite nach und kann mit beherztem Versetzen korrigiert werden. Der großzügige Balance-Spielraum über dem Rad lässt auch steile Kehren den Schrecken verlieren. Aktiv fahren lautet die Devise.
Aktiv muss man das Bike auch aufs Hinterrad ziehen, denn 443 mm lange Kettenstreben und die geräumige Front benötigen schon ein bisschen mehr Kraft für Manuals und Bunny Hops. Einmal in der Luft jedoch fliegt das Nicolai ION-G16 stabil wie ein A380.
Perfekte Lager und eine hundertprozentige Ausrichtung des steifen Rahmen lassen den Viergelenk-Hinterbau hervorragend ansprechen. Kleinere Unebenheiten werden souverän geschluckt, ohne dabei zu viel Federweg zu verschenken. Hier hilft die gute Justagemöglichkeit des Float X2 Dämpfers die persönlichen Vorlieben zu treffen. Nach einigen Versuchen beim Dämpfer-Setup legte ich mich auf 30 % Sag fest, wobei ich anfangs den Federweg jedoch bei kleineren Landungen oft schon ausgenutzt habe. Nach einem Irrweg über mehr Highspeed Druckstufe entschied ich, die Zahl der Volumenspacer von zwei auf maximale drei zu erhöhen und die Dämpfung zurückzunehmen. Zu viel Highspeed Druckstufe machte den Hinterbau eher straff, was mit nachlassender Traktion und einem holperigen Fahrgefühl quittiert wurde.
Der zusätzliche Spacer sorgt nun für eine progressivere Federkennlinie, bei sehr guter „Small-Bump-Compliance“, also der Federwegs Freigabe bei kleineren Schlägen. Die Lowspeed Druckstufe stellte ich so ein, dass ich stabil im Federweg stand. Auf Strecken mit vielen Anliegern darf dies gern mal ein paar Klicks mehr sein, auf wurzeligen Strecken weniger. Die Highspeed Zugstufe ließ ich eher schnell arbeiten, damit der Hinterbau nach Landungen und größeren Impacts schnell Federweg zurückgewinnen kann. Die Lowspeed Zugstufe fahre ich jedoch vergleichsweise langsam. So eingestellt harmonieren die 175 mm Federweg des Rahmens hervorragend mit den 160 mm der verbauten Fox Float 36.
Fazit:
Optisch gefällt uns das ION-G16 extrem gut. Jeder Kunde kann bei Nicolai meist ohne Aufpreis eine individuelle Farbe für Hauptrahmen, Druck- und Sitzstreben wählen. So wird jeder Rahmen ein Unikat, egal ob eloxiert, Alu-Raw oder mit Pulverbeschichtung. Die Option „Extra Love“ ermöglicht sogar farbig eloxierte Lagerdeckel und Umlenkhebel. Der Rahmen weist tolle Details auf, wie in etwa die 4-fach gedichteten Lager, welche jeglichen Wetterbedingungen stand halten sollten. Innerhalb unseres Testzeitraumes konnten wir keinen nennenswerten Verschleiß feststellen und auch die gewählte orangene Pulverbeschichtung scheint von bester Qualität zu sein.
Selten wurden wir auf dem Trail von einem Bike so positiv überrascht wie vom Nicolai ION-G16. Bergauf klettert das Bike sehr effektiv und lässt die Front erst extrem spät ansteigen. Lange Anstiege sind überhaupt kein Problem, und auch die knapp 14,5 kg stellen kein großes Hindernis dar – auch wenn aktuelle Carbon Bikes meist über ein Kilogramm leichter sind. Die zuschaltbare Plattform des Float X2 Dämpfers erzeugt Ruhe im Fahrwerk, sodass es sich mühelos und ermüdungsfrei pedalieren lässt.
Bergab ist das G16 eine absolute Bank! Der Lange Radstand verleiht viel Sicherheit, ohne übermäßig die Wendigkeit zu beeinflussen. Der Fahrer hat viel Platz um auf, bzw. im Rad zu arbeiten. Die vorverlagerte Position benötigt allerding Druck auf der Front – Fahrer die sich gern „hinter dem Rad verstecken“ werden wenig Freude am ION finden. Lässt man sich jedoch darauf ein, erzeugt das Nicolai ION-G16 jede Menge Grip über beide Räder. Dies erzeugt eine Menge Selbstbewusstsein um auch in härtere Linien hinein zu steuern und an allen möglichen Stellen einfach abzuziehen.
Ist das Nicolai ION-G16 wirklich die angekündigte „Geolution“? Die Frage ist schwer zu beantworten. Geolution hieße, dass sämtliche Hersteller ihre Bikes in Zukunft mit ähnlichen Geometrien bauen würden. Fakt ist, dass der Reach vieler Bikes in den letzten Jahren in der Tat gewachsen ist und die Lenkwinkel flacher wurden – wenn auch meist eher in homöopathischen Dosen. Die Nicolai Geometron Reihe ist für uns daher ein wirklich zu Ende gedachtes Konzept, bei welchem das Zusammenspiel der Geometrie im Ganzen wirklich sehr gut funktioniert. Das Bike sorgte bei uns für einige „Aha-Erlebnisse“ und ist einer meiner persönlichen Lieblinge geworden.
Taiwan ist ein High Tech Land mit einem Lebensstandard auf deutschem Niveau. Wenn man Made in Germany kauft, dann weil man immer noch an den Mythos „Made in Germany“ glaubt, oder weil man den heimischen Markt unterstützen möchte. Qualitativ dürften sich Taiwan Rahman nicht wirklich von Nicolai unterscheiden. Trotzdem ist Nicolai interessant.
Richtig, die meisten Rahmen und Komponenten kommen aus Taiwan. Qualitativ haben wir da selbstverständlich keine Bedenken. Made-in-Germany des Nicolais ist einfach eine nette Geschichte und rückt den Hersteller etwas näher.
Gib dem ganzen Bike 29″ Räder, wie das Mojo Nicolai Geometron 29 und es wird noch schneller!
Auf jeden Fall finde ich die Preis/Leistung bei Nicolai mega, weil wo man bei US-Edelmarken nur den Namen bezahlt und einen Rahmen made in Taiwan bekommt kann man bei Nicolai die Geburt seines Rahmes live miterleben und alles ist gute Handarbeit oder wird von CNC Maschinen „in house“ gefertigt!